Gewerbliche Anwendbarkeit - relevantes Datum?

SwissPatEng

SILBER - Mitglied
Kann mir jemand sagen, welches Datum (Prioritätsdatum, Anmeldedatum...) für die Bestimmung ob eine Erfindung gewerblich anwendbar ist oder nicht relevant ist?
Da die Erteilungsverfahren ja relativ lange dauern (wir haben einige über 10jährige EP-Anmeldungen in unserem Portfolio...) kann sich doch im Prinzip die Situation ergeben, dass eine - auf dem Papier entworfene - Erfindung bei der Anmeldung noch nicht gewerblich anwendbar war, durch den technischen Fortschritt aber während des Erteilungsverfahrens gewerblich anwendbar wird.
Wer hat hierzu gute Ideen?
 

pak

*** KT-HERO ***
Hallo SwissPatEng,

exotische, aber interessante Frage! Ich denke, dass sich die gewerbliche Anwendbarkeit auch noch nach dem Anmelde- oder Prioritätsdatum ergeben kann. Auch hat die gewerbliche Anwendbarkeit innerhalb des (deutschen) Gesetzes im Gegensatz zur Neuheit und erfinderischen Tätigkeit keinen Bezug zum Stand der Technik, mithin auch keinen Bezug zum Anmelde- oder Prioritätstag. Sollte sich die gewerbliche Anwendbarkeit später ergeben, so bedeutet dies mM, dass die Erfindung grundsätzlich auch bereits vor den genannten Daten "auf einem gewerblichen Gebiet hergestellt oder benutzt" hätte werden können. Der Zeitpunkt scheint mir irrelevant, solange er vor einer rechtskräftigen Zurückweisung liegt ;)

Gruß

pak
 

grond

*** KT-HERO ***
Da die Erteilungsverfahren ja relativ lange dauern (wir haben einige über 10jährige EP-Anmeldungen in unserem Portfolio...) kann sich doch im Prinzip die Situation ergeben, dass eine - auf dem Papier entworfene - Erfindung bei der Anmeldung noch nicht gewerblich anwendbar war, durch den technischen Fortschritt aber während des Erteilungsverfahrens gewerblich anwendbar wird.

Vermischst Du eventuell die gewerbliche Anwendbarkeit mit der Ausführbarkeit? Gewerblich anwendbar bedeutet lediglich, dass vorstellbar ist, dass der Erfindungsgegenstand mit wirtschaftlichem Nutzen eingesetzt werden kann. Ob sich das dann rentiert, ist egal. Patentierungsausschlüsse unter dem Gesichtspunkt der gewerblichen Anwendbarkeit sind mit der Lupe zu suchen. Ich meine mich an eine Entscheidung zur Verwendung eines Stoffes als Verhütungsmittel zu erinnern. Das Verhütungsmittel kann zwar klar gewerblich angewendet werden (nämlich verkauft werden), allerdings liegt die Verwendung des Verhütungsmittels im privaten Bereich, so dass dieser Nebenanspruch nicht gewährbar war.

Die technische Ausführbarkeit kann sich natürlich mit dem Stand der Technik ändern, allerdings hilft das auch nichts, da es dabei grundsätzlich um die Ausführbarkeit am maßgeblichen Zeitrang der Anmeldung geht. Ein technischer Fortschritt kann also eine mangelnde Ausführbarkeit am Anmelde- oder Prioritätstag nicht heilen. Selbiges würde ich aus systematischen Gründen auch für die gewerbliche Anwendbarkeit erwarten, obgleich ich da eh keine besondere zeitlich veränderbare Komponente sehe. Wenn beispielsweise irgendein Stoff gegenwärtig unglaublich teuer herzustellen ist (sagen wir Nanoröhrchen) und Deine Erfindung darin besteht, einen Wolkenkratzer aus dem Zeug zu bauen, ist das zwar praktisch gewerblich nicht anwendbar, weil niemand das notwendige Geld dafür ausgeben wird, aber theoretisch ist es eben doch gewerblich anwendbar. Dabei ist es vollkommen egal, ob das Material zwei Jahre nach Anmeldung der Erfindung durch einen neuen Herstellungsprozess spottbillig herzustellen ist und die Erfindung dadurch plötzlich auch in der Realität wirtschaftlich attraktiv wird. Es handelt sich bei der gewerblichen Anwendbarkeit um eine reine Rechtsfrage.
 

SwissPatEng

SILBER - Mitglied
Vermischst Du eventuell die gewerbliche Anwendbarkeit mit der Ausführbarkeit?

Jein, die beiden Dinge sind ja per se schon ziemlich vermischt.
Meine Frage ist sicher etwas konstruiert aber ich könnte mir eben folgende Situation vorstellen:
Auf einer Konferenz erzählt Ingenieur XY, dass seine Firma in einem Jahr eine Technologie auf den Markt bringen wird, mit der man A machen kann. Wie die Technologie funktioniert erzählt er nicht, alles ist streng geheim. Bisher galt es als unvorstellbar, dass man A (gewerblich) herstellen könnte. Deshalb wäre bisher auch eine Herstellung von AB ausgeschlossen gewesen. (AB konnte man bisher nur im Ultrahochvakuum bei fast 0 Kelvin herstellen und es zerfiel in 0.0001ms, also wäre zwar die Ausführbarkeit gegeben gewesen aber wohl kaum die gewerbliche Anwendbarkeit). Mit der neuen Technologie zur Herstellung von A wird man aber eben auch AB gewerblich herstellen können. Da Ingenieur XY mir diese Info erzählt hat könnte ich ja jetzt am nächsten Tag (also noch bevor die Firma die Maschine zur Herstellung von A auf den Markt bringt) eine Patentanmeldung für AB, hergestellt mit einer Maschine welche A herstellen kann, einreichen. Ich könnte mir also einen Schutzbereich sichern für etwas, das zum Zeitpunkt der Anmeldung noch gar nicht gewerblich anwendbar war.
 

grond

*** KT-HERO ***
Ich sehe bei Deinem Beispiel lediglich Fragen der technischen Ausführbarkeit und (irrelevante) Wirtschaftlichkeitsüberlegungen, die durch das Patentierungserfordernis der gewerblichen Anwendbarkeit eben gerade nicht gemeint sind.
 

Lysios

*** KT-HERO ***
Ein technischer Fortschritt kann also eine mangelnde Ausführbarkeit am Anmelde- oder Prioritätstag nicht heilen. Selbiges würde ich aus systematischen Gründen auch für die gewerbliche Anwendbarkeit erwarten, obgleich ich da eh keine besondere zeitlich veränderbare Komponente sehe.

Kinkeldey in Benkard, EPÜ, 2. Auflage 2012, sieht das in Art. 57 Rn 12 ganz genauso: der Anmelde- oder Prioritätszeitpunkt ist entscheidend. In Rn 3 wird dann auch diesbezüglich auf BK-Entscheidungen verwiesen, z.B.

"Auch in der Sache T 18/09 vom 21. 10. 2009 (RsprBK 2010, 257) wurde unter Hinweis auf frühere Entscheidungen (T 898/05 vom 7. 7. 2006 RsprBK 2010, 257) erneut die enge Wechselbeziehung zwischen den Art. 83 und 57 EPÜ im dem Kontext betont, dass der Anmelder/Patentinhaber verpflichtet sei, eine ausreichende Beschreibung der Erfindung vorzulegen, aus der auch die gewerbliche Anwendbarkeit hervorgeht."
 

SwissPatEng

SILBER - Mitglied
Ich sehe bei Deinem Beispiel lediglich Fragen der technischen Ausführbarkeit und (irrelevante) Wirtschaftlichkeitsüberlegungen, die durch das Patentierungserfordernis der gewerblichen Anwendbarkeit eben gerade nicht gemeint sind.

Das liegt vielleicht daran, dass wir in der Industrie einfach zu fokussiert auf Wirtschaftlichkeitsüberlegungen sind, das färbt dann auf andere Bereiche ab :)

Vielleicht war mein Beispiel auch etwas zu wenig radikal. Wenn mir der Ingenieur nun erzählen würde, sie hätten rausgefunden, dass ein bisher als unumstösslich geltendes Naturgesetz umgangen werden kann (sagen wir mal die Energieerhaltung kann ausgehebelt werden), dann könnte doch im Prinzip die oben beschriebene Situation entstehen.

Ich würde es nur mal einen kreativen Einspruchsgrund finden mit der (bei Anmeldung nicht gegebenen) gewerblichen Anwendbarkeit zu argumentieren und wollte wissen welche Zeitpunkte dafür relevant sind.
 

Blood für PMZ

*** KT-HERO ***
Hallo SwissPatEng,

Denkt man Dein Beispiel weiter, könnte aber jeder der zahlreichen Anmelder eines Perpetuum mobile gegenüber dem entnervten Prüfer argumentieren, er würde jemand kennen, der wüsste schon, wie man die zur Durchführung der Erfindung erforderlichen Voraussetzungen schafft. Schon ist die Erfindung a) ausführbar und b) gewerblich anwendbar. Oder: Man müsste einfach noch ein bisschen warten, dann ginge es schon. Also: Aussetzung beantragen ...

Tatsächlich ist Deine Ausgangsfrage aber schon gelegentlich für Kandidaten relevant. Es gibt nämlich ab und zu Anmeldungen für verbesserte Geräte zur körperlichen Züchtigung von Strafgefangenen, ungezogenen Schülern und anderen Betroffenen. Dazu gibt es auch tatsächlich ein paar Offenlegungsschriften. Diese Anmeldungen kann man dann nach § 2 Absatz 1 erster Halbsatz wegen Sittenwidrigkeit beanstanden. Richtig überzeugend ist das außer in Extremfällen aber nicht, denn nicht alles, was verboten ist, ist auch sittenwidrig, siehe auch den Halbsatz 2 dazu. Und gesellschaftlich akzeptiert wäre es in sehr weitem Umfang. Also kann man es mit fehlender gewerblicher Anwendbarkeit versuchen, denn eine Benutzung wäre ja verboten (incl. anbieten, etc.). Und schon stellt sich die Frage: vor gar nicht langer Zeit wäre es aber gewerblich anwendbar gewesen. Welches Datum gilt? Und vielleicht gibt es in der Schweiz eine Volksabstimmung mit entsprechendem Ergebnis, dann wäre zukünftig ein Export möglich, wie sieht es mit einem Beschluss nach diesem Datum aus? Gilt Anmeldetag oder Beschlusstag?

Alles graue Theorie natürlich, denn a) ist das Gerät zumindest gewerblich herstellbar, b) würde der pragmatische Patentanwalt kreativ werden und eine gewerbliche Anwendbarkeit im BDSM-Sektor behaupten, wenn der Erfinder schon nicht selbst darauf kommt, und c) wird schon der Antrag auf Verfahrenskostenhilfe aufgrund fehlender Verwertungsabsicht abgelehnt.

Frohes Schaffen mit hoffentlich aussichtsreicheren Akten

Blood für PMZ
 

Karl

*** KT-HERO ***
Zitat aus Schulte 9. Auflage §5 Rdn 11:, "Nachweis der gewerblichen Anwendbarkeit ist idR nicht erforderlich. Nur wenn nicht übersehen werden kann, ob die Erfindung überhaupt gewerblich anwendbar ist, bedarf es einer entsprechenden Angabe. ... Wird erst mit dieser Angabe eine technische Lehre offenbart, muss sie ursprünglich genannnte sein."
 

Karl

*** KT-HERO ***
Ach und noch zum Thema gewerbliche Anwendbarkeit: Nur weil etwas verboten ist, heist dies nicht, dass es nicht gewerblich Anwendbar ist. Beim Kriterium der gewerblichen Anwendbarkeit geht es darum, ob aus technischer Sicht die Erfindung auf einem gewerblichen Gebiet liegt.

Eine spezielle Miene die nur darauf ausgelegt ist, Kinder in die Luft zu sprengen wäre also gewerblich Anwendbar, denn sie liegt auf dem technsichen Gebiet der Waffentechnologie. Selbstverständlich wäre ein solcher Anwendungsgegenstand - wenn er denn so beschrieben würde - nicht erteilbar, da er gegen die guten Sitten verstößt (international geächtete Waffe...).

Würde die Anmeldung hingegen so geschrieben, dass nur eine Auslösung der Miene durch Panzer beschrieben wird, wäre kein Verstoß gegen die guten Sitten gegeben, und zwar auch dann wenn der Hauptanapruch beispielsweise nicht hinsichtlich des zum Auslösen notwendigen Gewichts eingeschränkt ist, sodass unter den Anspruch auch Mienen fallen würden, die zum Sprengen von Personen geeignet sind.
 
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